Wissenschaft

Süße Verlockung: Seit Wochen schon verkaufen die Supermärkte Weihnachtsartikel. (Foto: dpa/Bernd Thissen)

22.12.2021

"Der Mensch ist von Natur aus ein fettes Tier"

Über die Weihnachtsfeiertage nehmen die Deutschen am meisten zu. "Fettversteher" Alexander Bartelt von der Universität München erforscht, warum wir zunehmen – und wie wir wieder abnehmen können

BSZ: Herr Bartelt, schon seit September wollen uns die Schokoladenweihnachtsmänner in den Supermarktregalen verführen. Ihr Tipp?
Alexander Bartelt: Gerade saisonale Leckereien haben ihren Reiz. Sie lösen im Körper Glücksgefühle aus wie zum Beispiel so manch andere Droge, sind aber gesetzlich zugelassen. Um Fressattacken zu vermeiden, kann ich zum Beispiel Lebkuchenliebhabern nur raten, sich nicht gleich die Zwei-Kilo-Box, sondern nur eine kleine Packung zu kaufen. Um sich nicht übermäßig mit Kalorien einzudecken, würde ich mir generell den Nutri-Score, also eine Lebensmittelampel, auf allen Produkten wünschen. Das ist Deutschland leider noch nicht verpflichtend.

BSZ: Über die Weihnachtsfeiertage nehmen die Deutschen am meisten zu. Wie lässt sich trotz der vielen Abendessen die Figur halten?
Bartelt: Weihnachten ist das Paradebeispiel für Social Eating. Das bedeutet, wir essen mehr als wir eigentlich müssen, denn der soziale Anlass erfordert es. Einen guten Rat habe ich leider auch nicht, aber man könnte den Nachtisch weglassen oder nicht so viel Alkohol trinken – das sind alles Extrakalorien. Auf Salat umsteigen würde ich jetzt aber auch nicht. (lacht) Stattdessen lieber zwischen den Jahren mal das Fahrrad statt der Bahn nehmen. Früher gab es solche Festessen nur ein bis zweimal im Jahr, heute essen wir mehr als wir brauchen. Was zu essen, gibt es ja auch an jeder Ecke.

Im Lockdown wurden die Deutschen noch dicker

BSZ: Was haben die Lockdowns aus uns schon vorher nicht gerade schlanken Deutschen gemacht?
Bartelt: Im ersten Halbjahr 2020 hat jeder von uns im Schnitt ein Kilo zugenommen, bei Menschen mit Adipositas waren es sogar 7,5 Kilo. Und das sind nur Durchschnittswerte! Kurzum: Die Deutschen sind zu dick. Dabei gibt es klare Unterschiede zwischen Bildungsstatus, Einkommen und Region. In Städten sind die Menschen zum Beispiel dünner als auf dem Land. Vor allem aber Kinder werden immer dicker, und konnten im Lockdown ihren Hobbys nicht nachgehen. Je länger sie übergewichtet sind, desto höher ist das Risiko, später an Stoffwechselerkrankungen zu leiden.

BSZ: Laut Studien gibt es jährlich 160.000 Tote in Deutschland wegen zu viel Fett, Salz und Zucker. Warum wird bei diesem Thema von der Politik nicht ähnlich hart wie bei Corona durchgegriffen?
Bartelt: Weil sich die Todesursache bei Corona leichter definieren lässt. Niemand stirbt, weil er zu dick ist, das ist lediglich ein Risikofaktor für Diabetes, Herz- oder Schlaganfälle. Da in der Statistik dann nichts von Übergewicht zu lesen ist, wird das Problem von der Politik nicht richtig wahrgenommen. Als Gesundheitsforscher kann ich nur mahnen, dieses Thema ernstzunehmen. Jeder zweite Mensch ist statistisch übergewichtig – Tendenz stark steigend. Das sind erschreckende Zahlen.

BSZ: Abnehmen ist doch so einfach, heißt es oft.
Bartelt: Unser evolutionärer optimierter Energiestoffwechsel trifft auf unsere moderne Lebensweise – das ist eine gefährliche Mischung. Wir müssen beim Abnehmen also gegen die Biologie unseres Körpers kämpfen, der die Extrakalorien für schlechte Zeiten unbedingt behalten will. Weniger essen, mehr bewegen – das ist viel schwieriger als es klingt. Auch wirksame Medikamente für Menschen mit Adipositas gibt es bisher nur wenige auf dem Markt. Die ultimativen Maßnahmen sind eine Magenverkleinerung, Magenbänder oder ein Magenbypass. Allerdings haben unsere Fettzellen auch ihren Sinn und Zweck. Extrem schlank sein, ist daher nicht erstrebenswert.

BSZ: Kleine Fettpölsterchen haben also ihr Gutes?
Bartelt: Ja, Fettzellen werden in unserer Gesellschaft stark unter- oder fehleingeschätzt. Unser Körper kann viele Fette nicht selbst herstellen und benötigt sie daher aus der Nahrung. Ein gesunder Stoffwechsel kann auch mit ungesunden Fetten umgehen, sie umwandeln, abbauen oder ausscheiden. Aber wir nehmen heutzutage viel zu viele Kalorien auf – nicht nur aus Fett, sondern auch aus Zucker, Glukose und vor allem Fruchtzucker. Obwohl unsere Fettzellen ähnlich flexibel wie ein Luftballon sind, bringt sie das auf Dauer zum Überlaufen.

BSZ: Sie schreiben in Ihrem Buch „Der Fettversteher“, Fettzellen können wie Menschen glücklich oder aggressiv werden.
Bartelt: Eine glückliche Fettzelle ist gut gefüllt, ausreichend mit Sauerstoff versorgt und umgeben von netten Nachbarn, also anderen glücklichen Fettzellen. Trifft das nicht zu, wird die Fettzelle aggressiv und wirft mit Entzündungsmolekülen um sich. Das lockt Zellen des Immunsystems an: Das Fettgewebe ist dann chronisch entzündet. Dadurch verlieren die Fettzellen ihre schützende Stoffwechselfunktion und laufen über. Dann landet das Fett über die Leber im Blut und in anderen Organen. Ab diesem Moment wird aus einem gesunden Fettspeicher ein krankhafter Begleiter.

Frieren und abnehmen

BSZ: Sie haben im November den Forschungspreis der Deutschen Adipositas-Gesellschaft für eine neue Entdeckung erhalten. Ist sie der Schlüssel für eine lebenslange Traumfigur?
Bartelt: Höchstes ein Puzzlestück dafür. Wir haben uns mit brauen Fettzellen im Menschen beschäftigt, die selbst in der Wissenschaft noch nicht überall bekannt sind. Vereinfacht gesagt: Wenn uns kalt ist, sagt das Gehirn dem braunen Fettgewebe: „Is‘ kalt, mach‘ warm.“ Diese sogenannte Thermogenese erfordert sehr viel Energie, weshalb dabei viel Fett, Zucker und andere energiereiche Moleküle abgebaut werden. Mäuse, die über Nacht Kälte ausgesetzt werden, nehmen rasant ab. Noch wissen wir bei Menschen relativ wenig darüber, aber diese Wissenslücke bietet Chancen für neue Entdeckungen.

BSZ: Das heißt, frieren hilft beim Abnehmen?
Bartelt: Prinzipiell schon! Die meisten Menschen verlassen nur ungern ihre Temperatur-Wohlfühlzone. Es muss ja nicht gleich Eisbaden sein, obwohl das das braune Fett aktiviert. Aber schon, wenn wir ohne Jacke spazieren gehen, verbrennt unser braunes Fett Kalorien. Allerdings besteht bei Erwachsenen nur 0,02 Prozent des Körpergewichts aus braunen Fettzellen. Es reicht also nicht, wenn wir eine Nacht das Fenster offenlassen. Aber ein Kilo Fettabbau pro Jahr ist durchaus drin. Auch kalt duschen oder Gewürze wie Chili oder beispielsweise Koffein in Kapselform helfen zusätzlich.

BSZ: Was bringen Diäten oder Fettabsaugungen?
Bartelt: Die meisten Diäten helfen – aber nur kurzfristig. Dasselbe gilt fürs Fett absaugen. Sobald wir wieder essen wie vorher, beginnt unweigerlich der Jo-Jo-Effekt. Keiner will gerne sein Leben lang eine Kohldiät machen. Es hilft nur: Die eigenen Ernährungsgewohnheiten erkennen, auswerten und langfristige Veränderungsmöglichkeiten suchen – egal ob Low-Carb, Atkins oder Proteinfrei. Es geht vor allem aber auch um die Kalorienanzahl. Wobei dann auch zu viel Obst schlecht sein kann. Immer hilfreich sind naturbelassene Lebensmittel anstatt industrieller Nahrung, also Äpfel statt Apfelsaft, Vollkornbrot mit vollen Körnern statt Feinbrot aus feingemahlenem Mehl

BSZ: Wie schwer fällt es Ihnen persönlich, das Gewicht zu halten?
Bartelt: Für mich ist es leider nicht unbedingt einfacher. Zwar habe ich gute Gene, aber in meinen Anzug von vor zehn Jahren passe ich auch nicht mehr. Aber natürlich hilft mir meine Forschung, sich bei manchen Dingen nicht verrückt zu machen. Dass der Körper mit dem Alter rundlicher wird, ist bis zu einem gewissen Grad natürlich und gut. Der Mensch ist von Natur aus ein fettes Tier – das müssen wir akzeptieren. Mit ausreichend Sport und Bewegung hält man den Stoffwechsel auf Trapp und kommt man auch mit einem nicht-idealen Bodymaßindex wunderbar durchs Leben.
(Interview: David Lohmann)

Foto: Alexander Bartelt ist Professor für kardiovaskulären Stoffwechsel am Institut für Prophylaxe und Epidemiologie der Kreislaufkrankheiten der Ludwig-Maximilians-Universität München

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