Kommunales

Viele Rentnerinnen verkaufen beispielsweise Blumen, um finanziell besser über die Runden zu kommen. (Foto: dpa)

20.04.2018

Bloß keinem zur Last fallen

Altersarmut ist im reichen München ein verstecktes Phänomen – viele Senioren gehen lieber arbeiten, als Unterstützung vom Staat einzufordern

Im hohen Alter als Putzfrau arbeiten, nur um sich die Miete zu leisten? Oder nachts heimlich Pfandflaschen sammeln, um dem Enkel ein Geburtstagsgeschenk zu machen? Die Münchner Professorin Irene Götz und ihr Team haben im Rahmen eines Forschungsprojekts Münchner Seniorinnen interviewt, wie sie mit ihrer Rente zurechtkommen. Die Ergebnisse geben Anlass zur Sorge.

Die Münchner zahlen durchschnittlich 912 Euro Monatsmiete (kalt), eine Seniorin bekommt aber im Schnitt nur rund 700 Euro Erwerbsrente pro Monat. Wie kann das funktionieren, wenn kein nennenswertes Erbe zur Verfügung steht oder keine Ersparnisse aufgebaut werden konnten und die Frauen überdies allein wirtschaften müssen?

Das fragte sich vor vier Jahren auch Irene Götz vom Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als Wissenschaftlerin ist sie an den Bewältigungsstrategien des Alltags interessiert. Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter (2015 – 2018) begann die Forscherin – sie ist auch stellvertretende Frauenbeauftragte der Hochschule – mit ihren Mitarbeitern und Studenten, Münchner Rentnerinnen zu interviewen. Frauen deshalb, weil diese in der Regel durch die Kindererziehung und den noch immer bestehenden immensen Gender Pay Gap noch weniger Rente als Männer bekommen.

Auf den Zahnarztbesuch wird mitunter verzichtet

Den typischen Rentner oder die typische Rentnerin gibt es zwar nicht. Manche Senioren haben laut Statistischem Bundesamt mehr als 2000 Euro im Monat, andere weniger als 600 Euro. Manche verbringen ihren Lebensabend auf einem Kreuzfahrtschiff, andere auf einem Klappbett im Flur der Tochter. Manche sind aktiv und wollen arbeiten, andere sind gebrechlich und müssen arbeiten. Manche sind einsam und isoliert, andere haben Freunde und Familie. Manche engagieren sich ehrenamtlich, um Wissen weiterzugeben, andere vor allem auch, um die Aufwandsentschädigung zu erhalten. Dem überwiegenden Teil der in diesem Projekt befragten Frauen der Generation 60 plus geht es allerdings zumindest materiell schlecht, was auch aktuellen repräsentativen Zahlen entspricht: „Mehr als zwei Drittel der Rentnerinnen in Bayern erhalten eine Erwerbsrente unter dem Grundsicherungsniveau“, versichert Götz. Wenn sie noch dazu, wie zum Beispiel die vielen Geschiedenen, in einem Single-Haushalt in München leben: Wie können sie hier über die Runden kommen? Wie gut Rentnerinnen im Alter leben können, hängt gerade bei wenig Geld vom kulturellen und sozialen Kapital ab. Frauen, die zum Beispiel aus einem bürgerlichen Milieu kommen und nun auch von Altersarmut bedroht sind, können materielle Engpässe besser ausgleichen. Sie besitzen unter Umständen einen wohlhabenderen Freundeskreis, der mit Rat und Tat zur Seite stehen kann, und sie hatten Zugang zu einschlägiger Bildung, die sie auch im Alter leichter ökonomisierbar machen können.

Auch die hauswirtschaftlichen Kenntnisse erhöhen laut Götz und ihrem Team die Chance, mit Altersarmut besser zurechtzukommen. Wer über bestimmte Fertigkeiten und Ressourcen verfügt, kann beispielsweise Tauschbörsen im Internet nutzen. „Im Alter wirkt sich massiv aus, wie man sein Leben lang gelebt hat“, resümiert die Ethnografin ein Ergebnis ihrer rund 50, meist mehrstündigen qualitativen Interviews.

Wenig Bildung, Sprachprobleme, kaum Freunde

Wer die beschriebenen Ressourcen nicht hat, ist im Alter doppelt bestraft. Rentnerinnen mit wenig Bildung, Sprachproblemen, einem kleinen Freundeskreis und vor allem mangelnder familiärer Anbindung müssen zur Aufbesserung der Rente noch auf Mini-Job-Basis weiter arbeiten: als Putzfrau, als „Leih-Oma“, als 24-Stunden-Pflegekraft im Privathaushalt, als Telefonistin in einem Call-Center. Eine der größten Sorgen der interviewten Seniorinnen: Gebrechlich zu werden und den Alltag nicht mehr allein zu schaffen. Denn die verlorene Unabhängigkeit kostet Geld. Noch vor der Angst, der Familie „zur Last zu fallen“ oder vor dem Heim als der „Wartehalle auf den Tod“ kommt ganz aktuell immer wieder die Angst vor steigenden Mietkosten. Durch einen infolge weiterer Mieterhöhungen erzwungenen Umzug würde das ganze Gefüge der alltäglichen Lebensführung zusammenbrechen. „Viele sprechen selbst innerhalb der Familie nicht über die eigene Bedürftigkeit“, erzählt Götz.

Das hat sie und ihre Nachwuchswissenschaftlerinnen verblüfft. Seniorinnen möchten der jüngeren Generation immer mehr geben als von dieser nehmen – den Enkeln keine Geschenke mehr machen zu können, war für manche Interviewte eine besonders schambesetzte und schmerzliche Erfahrung. Das führt zu schwierigen Situationen: So gehen Rentnerinnen auch im hohen Alter noch arbeiten, nur um dem Enkel den Auslandsaufenthalt finanzieren zu können. Gespart wird in vielen Fällen am Heizen oder am Essen. Viele gehen nicht mehr aus dem Haus, Vereine werden gekündigt, auf den Zahnarztbesuch wird auch verzichtet. Das Wichtigste für die Frauen: Niemandem zur Last fallen. Weder der Familie, noch dem Pflegepersonal, ja, noch nicht einmal den Krankenkassen. Armut ist schambesetzt. Viele geben sich sogar die Schuld an ihrer Misere.

„Männer holen sich vermutlich eher Hilfe“

Die Interviews haben immerhin bei einigen Münchner Seniorinnen zu einem Umdenken geführt, wie ein zweites Gespräch mit den Teilnehmerinnen ein Jahr später ergab. Manche haben sich dadurch erstmals getraut, öffentlich über ihre Armut zu reden. „Eine Seniorin sagte, sie habe jetzt verstanden, dass nicht sie für ihre mickrige Rente verantwortlich ist“, erinnert sich Götz. Die Dame hat immerhin 43 Jahre als selbstständige Kauffrau gearbeitet. Manche fühlten sich durch die Gespräche auch erstmals richtig gehört, manche wiederum hatten kein Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit, genehmigten jedoch die anonymisierten Porträts, die von den Ethnografinnen derzeit erstellt werden, um die Öffentlichkeit stärker zu sensibilisieren. Götz und die drei Projektmitarbeiterinnen haben die Einzelschicksale sehr berührt. Sie wollen dem Thema Altersarmut auch zukünftig Gehör verschaffen. Spätestens Anfang 2019 soll ein Buch über das Forschungsprojekt erscheinen. Darin werden unter anderem biografische Fallstudien von Frauen aus ganz unterschiedlichen Milieus präsentiert – darunter auch von Rentnerinnen aus der Slowakei. Das Land wurde als Vergleichsregion gewählt, weil dort die Altersrenten innerhalb der Europäischen Union am niedrigsten sind, die Frauen aber – zumindest im ländlichen Raum – noch enger in den Familien integriert sind – mit allen Vor- und Nachteilen.

Wären die Forschungsergebnisse anders ausgefallen, wenn ausschließlich männliche Rentner interviewt worden wären? „Das ist wohl das nächste Projekt“, sagt Götz. Sie rechnet aber mit großen Unterschieden. Erstens haben Männer statistisch eine höhere Erwerbsrente, zweitens eine geringere Lebenserwartung. Sie sterben also in der Regel vor ihren Frauen. Und drittens holen sich alte Männer vermutlich eher Hilfe als ältere Frauen, sagt Götz. „Männer sind es nun mal gewohnt gewesen, das ganze Leben lang umsorgt zu werden.“
(David Lohmann)

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