Leben in Bayern

Mittlerweile gibt es keinen Zweifel mehr, dass Wilhelm Reissmüller (links), hier 1941 im Militäreinsatz im Nordkaukasus, ein höchst engagierter Nazi war. Dem inzwischen verstorbenen ehemaligen Ingolstädter Verleger wurde jetzt die Ehrenbürgerwürde wieder entzogen. (Foto: dpa/AKG Images)

13.06.2025

Sie nannten ihn "Gott": Verstorbener Ingolstädter Verleger verliert wegen NS-Vergangenheit die Ehrenbürgerwürde

Ausgerechnet ein Nazi bestimmte wesentlich die Geschichte Ingolstadts in den vergangenen Jahrzehnten, brüstete sich etwa damit, den CSU-Mann Josef Listl ins Amt des Oberbürgermeisters gehievt zu haben. Über die NS-Vergangenheit des früheren "Donaukurier"-Verlegers Wilhelm Reissmüller herrschte lange Zeit Schweigen. Wer es wagte, darüber zu berichten, hatte es in der Audi Stadt schwer. Nun erkennt Ingolstadt dem verstorbenem Verleger die Ehrenbürgerwürde ab. Doch ist die Sache damit wirklich erledigt?

Am Ende hatte Wilhelm Reissmüller noch genau einen Fürsprecher. Als es am Dienstag der vergangenen Woche in der Sitzung des Ingolstädter Stadtrats unter Tagesordnungspunkt 7 um die Aberkennung von Reissmüllers Ehrenbürgerwürde wegen seiner zeitlebens vertuschten Nazi-Vergangenheit ging, sprang nur noch der UWG-Stadtrat Sepp Mißlbeck dem 1993 verstorbenen Verleger des Donaukuriers zur Seite: Man dürfe Reissmüller nicht posthum an den Pranger stellen, fand Mißlbeck. Der Mann habe sich doch nach dem Krieg so große Verdienste erworben. Mißlbeck plädierte dafür, die Entscheidung zu vertagen, bis in ein paar Jahren ein beim Institut für Zeitgeschichte in Auftrag gegebenes Gutachten vorliege.

Der Rest des Plenums wollte sich dieser Argumentation nicht anschließen. Da könne man ja gleich Hitlers Verbrechen mit dem Bau der Autobahnen relativieren. Mit einer Gegenstimme entzog man Reissmüller am späten Nachmittag seine Ehrenbürgerwürde. Überraschend war die schnelle Entscheidung vor allem deshalb, weil die Fraktionen von CSU, Freien Wählern, FDP und AfD zunächst auch dagegen waren und besagtes Gutachten abwarten wollten.

Lokale Hetzschrift herausgebracht

Nicht, dass die Faktenlage nicht eindeutig gewesen wäre: Allerspätestens seit der aus Ingolstadt stammende Journalist Thomas Schuler die Promotionsakte und die Studienkarte Reissmüllers im Archiv der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität gefunden und im vergangenen Herbst in der Aufsatzsammlung "Täter, Helfer, Trittbrettfahrer" (Band 17) veröffentlicht hatte, gab es keine Zweifel daran, dass Reissmüller nicht nur über seine NS-Mitgliedschaft gelogen hatte, sondern dass der Mann auch ein höchst engagierter Nazi war, der unter anderem für seinen Schwiegervater Ludwig Liebl dessen Verlag leitete und den Donauboten, eine lokale NS-Hetzschrift, herausbrachte. Nach dem Krieg wäre er wohl nie zu einer Lizenz für den Donaukurier gelangt, wenn die amerikanischen Besatzer damals seine Vergangenheit näher unter die Lupe genommen hätten.

Dass sich der Stadtrat nun doch eindeutig positionierte, könnte damit zusammenhängen, dass die Debatte über die Causa Reissmüller erstmals nicht hinter verschlossenen Türen stattfand. Schuler hatte durch die Regierung von Oberbayern prüfen lassen, ob die fortwährende nichtöffentliche Beratung des Themenkomplexes rechtens sei. „Dieser öffentliche Druck war natürlich total wichtig und zielführend“, meint nun auch Stadträtin Agnes Krumwiede von den Grünen.

Für eine gewisse Genugtuung dürfte die Entscheidung auch bei denen gesorgt haben, die der Verleger in den 70ern und 80ern vor Gericht gezerrt hat, weil sie auf seine NS-Mitgliedschaft hingewiesen hatten. Gerhard Reichert etwa. Die Schülerunion der CSU diffamierte Reichert damals in ihrer Zeitschrift als „Lügenbaron von Ingolstadt“.

Gegner wurden verklagt und diffamiert

Auch Gerd Bauz, der eine Broschüre verantwortete, in der dargelegt wurde, wie Reissmüller die Vergangenheit seiner Zeitung schönte, landete vor Gericht. Und als Reichert in einer Schülerzeitung über Reissmüllers Vergangenheit schrieb, erwirkte dieser sogar eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen dessen Lehrer.

Aber dann waren da auch die anderen, die, die Reissmüller nicht bekämpft hat – sondern totgeschwiegen. Was bei einem Zeitungsmonopolisten mitunter genauso schlimm sein kann. Und damit wäre man schon mittendrin in dem Esszimmer von Barbara und Michael Schölß, wo das Ehepaar sechs Tage nach der Stadtratsentscheidung Kaffee reicht. 

Er habe sich über die Entscheidung gefreut, sagt Michael Schölß. „Ich habe mir gedacht, wenn das der Vater noch erlebt hätte.“ Der Vater, das war Alois Schölß, Jahrgang 1905, ein vielseitiger Maler. Er war ein guter Zeichner, Porträtist und Landschaftsmaler, war stark vom Bauhaus inspiriert, hatte eine intensive expressionistische Phase und war Begründer einer eigenen Farblehre, wurde mit Johannes Itten verglichen und mit Piet Mondrian. Schölß gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Ingolstädter Kunstszene seiner Zeit. Und doch war er irgendwie auch: unsichtbar.

So zumindest fühlte er sich, und das hatte, davon war er überzeugt, mit der Familie Liebl-Reissmüller zu tun. Vor allem an zwei Begebenheiten, von denen sein Vater immer wieder erzählte, erinnert sich der Sohn. Die erste trug sich noch in den 30ern zu, da kam der Erzählung nach Ludwig Liebl auf den damals aufstrebenden Künstler Schölß zu: Er wollte ihm Aufträge geben, als Mäzen des jungen Malers in Erscheinung treten. Was für eine Art von Kunst dem überzeugten Nazi vorschwebte, ahnte Schölß wohl. Er lehnte ab. „Er hat oft gesagt“, erzählt jetzt sein Sohn, „dass das für ihn sehr karrierestörend war.“

Bei der Zeitung gab es eine schwarze Liste

Die andere Sache hatte bereits direkt mit Liebls Schwiegersohn Wilhelm Reissmüller zu tun. In den 50ern soll der sich angeschickt haben, Vorsitzender des Kunstvereins zu werden. Schölß, damals Schriftführer, und ein paar Gleichgesinnte sagten: Dann treten wir aus. Reissmüller bekam den Vorsitz nicht. Und der Künstler Schölß kam in der einzigen Zeitung der Stadt nicht mehr vor. Während über die Arbeit der anderen geschrieben worden ist, war er praktisch von der Bildfläche verschwunden. „Es hat ihn irre getroffen, dass er nirgends erwähnt, nicht anerkannt wurde“, erinnert sich Schwiegertochter Barbara Schölß.

In den 70ern kam der Künstler dann mal heim und erzählte der Familie: „Stellt euch vor, diese Liste gibt es tatsächlich, und da steh’ ich drauf.“ Gemeint war die schwarze Liste des Donaukuriers, auf der die unliebsamen Ingolstädter standen – die, über die nicht berichtet werden sollte. Ein Teilnehmer eines seiner Malkurse an der Volkshochschule habe es ihm bestätigt, ein Redakteur der Zeitung.

Natürlich ist es heikel, Schölß als Opfer Reissmüllers zu bezeichnen. Niemand wechselte die Straßenseite, wenn er ihn sah, er war ein weithin geschätztes Mitglied der Gesellschaft, lehrte Jahrzehnte an der Volkshochschule. Die Familie geriet nicht in finanzielle Nöte. Schölß bekam auch Aufträge – etwa für die Gestaltung von Schulgebäuden oder auch einer Aussegnungshalle. Nie aber von der Stadt Ingolstadt. Wenn es öffentliche Aufträge waren, dann kamen sie aus dem Landkreis. Aufträge der Stadt bekamen immer nur die Kollegen.

In der Stadt nannte man ihn „den lieben Gott“

Marieluise Fleißer, die bekannte Ingolstädter Schriftstellerin und eine Freundin der Familie, habe sich dann mal bei der Stadt für den Schwiegervater eingesetzt, vielleicht auch bei Reissmüller, erzählt Barbara Schölß. Doch ohne Erfolg. Und ihr Mann ergänzt: Der frühere Oberbürgermeister Peter Schnell (CSU) habe ihm mal erzählt, wie das lief zwischen Stadt und Verleger: „Die haben bei der Stadt schon sehr vorsichtig agieren müssen, weil sonst die Zeitung sich sofort eingeklinkt hätte.“

Erst 1980 erschien dann mal etwas zu Alois Schölß im Donaukurier. Ein Bild und ein paar Zeilen dazu. Es war eine Meldung zu seinem 75. Geburtstag.

Vieles in den Erzählungen bleibt im Vagen, beruht auf nicht überprüfbaren Behauptungen. Für manches hätte es auch andere Erklärungen geben können als Reissmüllers Einfluss: Kollegen, die sich emsiger ins Geschäft brachten oder einfach nur mehr dem Geschmack der damaligen städtischen Entscheidungsträger entsprachen. Auch der Prophet, der im eigenen Land nichts gilt, ist nicht umsonst sprichwörtlich. Die Schriftstellerin Fleißer war lange Zeit selbst eine solche Prophetin. Ohnehin gibt es kein Recht auf Berichterstattung über die eigene Person, und die subjektive Wahrnehmung von Betroffenen gebietet immer auch ein gewisses Maß an Skepsis. Und doch: Die Gesamterzählung passt nur allzu gut ins Bild.

In das Bild einer von einem Mann kontrollierten Stadt, den sie dort oft nur den „lieben Gott“ nannten, ob nun spöttisch oder ehrfürchtig gemeint. Ein Mann, der sich – befragt für eine Studie Münchner Kommunikationswissenschaftler – beispielsweise selbst damit brüstete, den CSU-Mann Josef Listl ins Amt des Oberbürgermeisters gehievt zu haben. Einen Politiker übrigens, der auch schon als NSDAP-Mitglied OB war.

Für die Studie nach den „zehn wichtigsten Personen“ der Stadt befragt, nannten einem Spiegel-Artikel von 1978 zufolge 60 repräsentativ ausgewählte Ingolstädter ausnahmslos Reissmüller an erster Stelle, den „ungekrönten König“ der Stadt. Einer habe kommentiert: „Wenn Sie nach den zehn einflussreichsten Leuten fragen, müssen Sie zehnmal Reissmüller schreiben.“ Ehemalige Redakteure des Donaukuriers, heißt es dann noch, hätten bestätigt: „Wenn in Ingolstadt eine Person der Öffentlichkeit von Reissmüller nicht mehr unterstützt wird, muss sie verschwinden.“ Reissmüller mag nicht bei allen Ingolstädtern beliebt gewesen sein, aber bei den meisten zumindest, so scheint es, gefürchtet. „Es war die Aura der Macht, die ihn umgeben hat“, sagt Agnes Krumwiede.

Die Angst ist heute Vergangenheit, doch der Umgang mit der Vergangenheit fällt den Ingolstädtern noch immer schwer. Sie habe den Eindruck, erzählt Krumwiede, viele dächten nun: „Gut, jetzt haben wir die Ehrenbürgerwürde aberkannt. Damit ist das Thema gelaufen.“ Doch eigentlich müsse doch jetzt gerade die öffentliche Diskussion beginnen. Sehr verstörend habe sie gefunden, dass sie beispielsweise von der CSU kein einziges inhaltliches Wort in der Stadtratssitzung gehört habe. Es sei noch immer so, dass man von einigen als eine Art Nestbeschmutzer wahrgenommen werde, wenn man Fragen zur Vergangenheit stelle.

„Mix aus Gedenken und Verdrängen“ 

Spricht man mit Thomas Schuler über dieses Phänomen, erinnert er an das Buch Opa war kein Nazi, eine Studie über den Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Das Ergebnis: In sehr vielen Familien ist man der Meinung, die Nazis seien andere gewesen, in der eigenen Familie gebe es allenfalls Mitläufer. Schuler sieht eine Parallele zum NS-Gedenken auf kommunaler Ebene. Dort finde „ein Mix aus Gedenken und Verdrängen“ statt. Jüdische Opfer des Nationalsozialismus würden zwar geehrt und ihre Nachfahren gerne eingeladen. Die Verbrechen der Nazis aber würden überregionalen beziehungsweise ortsfremden Nazis zugeschrieben, während die Einheimischen entschuldigt und fragwürdige Persilscheine in den Entnazifizierungsverfahren als reine Wahrheit gehandelt würden.

Dieser Wahrnehmung etwas entgegenzustellen, darum geht es Schuler bei seinen Recherchen zur NS-Vergangenheit Ingolstadts. „Die Ehrenbürgerschaft und die Aberkennung sind mir egal“, sagt der Journalist. „Aber sie sind das Mittel, um die Verdrängung und Verdrehung zu zeigen und die Geschichte zu korrigieren, beziehungsweise die Wahrnehmung der Geschichte.“ (Dominik Baur)
 

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Sind Landesgartenschauen sinnvoll?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
X
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.