Leben in Bayern

Das Munich Institute of Robotics and Machine Intelligence (MIRMI) kooperiert mit der Stiftung Pfennigparade. Ziel der Forschung ist die Verbesserung des Alltags von Menschen mit Behinderung, etwa von Dennis Bruder (vorne), der das MIRMI-Team beim Projekt unterstützt. (Foto: TUM/Andreas Heddergott)

21.11.2025

Wenn der Computer die Gedanken sichtbar macht

Wie Robotik- und KI-Fachleute der TU München behinderten Menschen dabei helfen, ihren Alltag besser zu meistern

Der linke Unterarm ist rasiert, die Elektroden angebracht und die Computer hochgefahren. Jetzt kann das Experiment in dem Labor, das sich die Forscher in einem Raum der Münchner Stiftung Pfennigparade eingerichtet haben, beginnen. „Drehe dein Handgelenk jetzt nach rechts“, bittet Ioannis Xygonakis, Ingenieur für Elektrotechnik am Munich Institute of Robotics and Machine Intelligence (MIRMI) der TU München, seinen Probanden Dennis Bruder.

Das Ergebnis ist auf dem Monitor sofort sichtbar: Waren bisher dort nur gerade, waagerechte Linien zu sehen, ist es mit der Ruhe jetzt vorbei. Die Linien schlagen enge und hohe Wellen.

Seit einem Unfall mit dem Snowboard gelähmt

Für alle Nicht-Fachleute ist das eine große Überraschung. Dennis Bruder kann sein Handgelenk nicht drehen. Seit einem Snowboard-Unfall ist der Münchner querschnittsgelähmt und Tetraplegiker, was bedeutet, dass er weder Arme noch Beine bewegen kann. In dem eben ausgeführten Versuch hat der 39-Jährige sein Handgelenk nur in Gedanken bewegt. „Ich konzentriere mich und stelle mir vor, genau diese Bewegung auszuführen“, sagt Bruder. Das Ergebnis seiner Bemühung zeigt sich in den Ausschlägen auf dem Bildschirm.

Ist auf dem Bildschirm die Kraft der Gedanken zu sehen? Alex Craik, Kollege von Ioannis Xygonakis am MIRMI, muss bei dieser eher unwissenschaftlichen Frage grinsen, nickt aber dann und sagt: „Man könnte es so ausdrücken.“

Wobei er als Wissenschaftler das Experiment anders erklären würde und zwar in Kurzform in etwa so: Bereits die Vorstellung einer Bewegung führt zu einer Veränderung der elektrischen Gehirnaktivität. Trotz der schweren Rückenmarkverletzungen, wie sie Tetraplegiker wie Dennis Bruder erlitten haben, kommen im gelähmten Muskel noch bewegungsbezogene Signale an.

Und eben diese können die Forscher mithilfe einer speziellen Elektromyographie, dem High-Density-EMG, messen. Dank dieser Signale könnten Querschnittsgelähmte wie Dennis Bruder irgendwann einmal in der Lage sein, ein Hilfsgerät zu steuern oder ihren Rollstuhl zu bedienen.

Genau darum geht es in diesem Projekt. Seit einem Jahr trifft sich das TU-Team, zu dem auch Projektleiterin Melissa Zavaglia gehört, mit Dennis Bruder und einem weiteren Probanden regelmäßig in der Pfennigparade. Es ist das erste Mal, dass die Stiftung, die sich in München seit vielen Jahrzehnten für Menschen mit Behinderungen einsetzt, zu Forschungszwecken mit einer Universität zusammenarbeitet. Anders herum ist es auch das erste Mal, dass die MIRMI-Wissenschaftler in diesem Bereich mit einer nichtklinischen Einrichtung kooperieren.

„Dass wir hier mit Menschen wie Dennis so eng zusammenarbeiten können, ist für uns etwas ganz Besonderes“, erklärt die Projektleiterin. „Wir bekommen von ihm direktes Feedback auf all unsere Fragen, das ist für unsere Forschung enorm wichtig.“

Auf drei Jahre ist die Studie angelegt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen mit ihrer Forschung körperlich eingeschränkten Menschen mehr Selbstständigkeit ermöglichen. Ioannis Xygonakis erklärt, wie das im konkreten Fall funktionieren könnte. „Dennis trägt einen Sensor am Arm und versucht, das linke Handgelenk nach rechts zu drehen“, führt der Ingenieur aus. „Ein Computerprogramm übersetzt die Signale des Sensors, der genau diese beabsichtigte Bewegung misst, in eine konkrete Anwendung, etwa das Klicken der rechten Maustaste.“

Laufen dank Chip in der Schädeldecke

Was futuristisch klingt, liegt angesichts der großen Fortschritte, die in den vergangenen Jahren in einem Bereich erzielt wurden, in dem sich KI, Robotik und Medizin immer enger verzahnen, durchaus im Bereich des Möglichen. 2023 wurde in der Schweiz einem inkomplett querschnittsgelähmten Patienten ein experimenteller Chip in die Schädeldecke eingesetzt, der es dem Mann über einen weiteren Chip im Lendenbereich ermöglichte, bis zu 100 Meter auf Krücken gestützt zu laufen.

2024 erregte ein Fall in den USA Aufsehen. Hier hatten Forscher einem Querschnittsgelähmten einen Chip in das Gehirn implantiert, mit dessen Hilfe der Mann jetzt in der Lage sein soll, unter anderem am Computer Schachfiguren zu bewegen. Aber – und dieses Aber ist groß: Trotz aller Innovationen steht die Forschung noch am Anfang.

„Was wir mit unserer Studie mit der Pfennigparade machen, ist Grundlagenforschung“, betont Projektleiterin Zavaglia. Der biomedizinischen Ingenieurin ist dieser Punkt besonders wichtig. Das TU-Team will keine falschen Hoffnungen wecken. Noch haben die Wissenschaftler erst einen Bruchteil der bewegungsbezogenen Signale decodiert.

„Genau das ist die Schwierigkeit“, sagt Zavaglia. „Wir müssen exakt identifizieren können, welche Bewegung Dennis in Gedanken ausgeführt hat.“ Erst dann könne man einen Schritt weitergehen und sich daran machen, ein entsprechendes Hilfsgerät zu entwickeln.

Vor dem nächsten Experiment brauchen Ioannis Xygonakis und Alex Craik eine Pause, um den Algorithmus des Programms anzupassen. Dennis Bruder ist das ganz recht, dann kann auch er einmal durchatmen. „Es ist anstrengend, sich über einen längeren Zeitraum gezielt auf verschiedene Bewegungen zu konzentrieren“, sagt er. Dennoch mache ihm die Zusammenarbeit mit den Forschern großen Spaß. „Ich bin technisch selbst sehr interessiert, deshalb habe ich mich auch gleich gemeldet, als für die Studie Probanden gesucht wurden“, erzählt er.

Technische Hilfsmittel nutzt er schon heute, sofern sie verfügbar sind. Das Handy bedient er per Sprachbefehl, für E-Mails nutzt er die Diktierfunktion und den Computer bedient er über eine Kopf-Maus und ein Pusteröhrchen, mit dem er den Cursor steuert. Was mal besser, mal schlechter funktioniert. Schon aus beruflichen Gründen würde er sich über eine einfachere Methode freuen. Dennis Bruder ist bei der Pfennigparade für Social Media und digitales Marketing zuständig.

Die Fachleute sind wieder bereit. Dennis Bruder hat jetzt gedanklich einzelne Bewegungen in einer festgelegten Reihenfolge auszuführen. Diese Serie muss er mehrmals wiederholen, während Ioannis Xygonakis und Alex Craik immer wieder Justierungen vornehmen. Nach einer halben Stunde ist es dann für heute geschafft.

Die Arbeit hilft wohl nur anderen Leuten

Ihm sei durchaus bewusst, sagt Dennis Bruder, während ihm die Elektroden vom Arm genommen werden, wie lange Forschung dauern könne und dass er selbst womöglich nicht von dieser Arbeit hier profitieren werde. „Aber darum geht es mir nicht“, sagt er. „Ich bin froh, einen Beitrag zu einem Projekt leisten zu können, das in Zukunft anderen das Leben vielleicht ein wenig erleichtert.“ (Beatrice Oßberger)
 

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