Zugegeben: Man kann es sich auch in der Krise schön machen. Für manche Familien bedeutet Corona vor allem Entschleunigung. Kinder haben mehr von ihren Eltern, Eltern mehr von ihren Kindern. Anspruchsvolle Terminarithmetik weicht dem gemeinsamen Mittagessen. Man hockt zwar ein bisschen eng aufeinander. Aber eigentlich ist die eigene Familie ja doch meistens Wunschheimat. Wer Platz hat und sich selbst Struktur gibt, kommt darum gerade ganz gut durch – Gesundheit und regelmäßiges Einkommen vorausgesetzt.
Aber was, wenn Eltern schlechter dran sind? Zum Beispiel, weil Suchtprobleme oder Geldsorgen den Alltag bestimmen. Die Wohnverhältnisse beengt sind. Entlastende Gewohnheiten wegfallen. Und all die Strukturen zusammenbrechen, auf die sich Familien sonst stützen können.
„Bei den einen wächst die Aggression. Andere suchen den Rückzug“, erklärt Alexandra Schreiner-Hirsch, pädagogische Leitung des Kinderschutzbunds Bayern. „Wieder andere, vor allem Kinder, reagieren auf den Stress aber auch mit einem extremen Kuschelbedürfnis.“ Das passt nicht immer unbedingt zusammen. Nicht untypisch, dass darum Konflikte auftreten – und eskalieren.
Tatsächlich ist die Zahl der Anrufe bei der deutschlandweiten „Nummer gegen Kummer“ des Kinderschutzbundes extrem angestiegen – um 26 Prozent bei den Kindern (Tel.: 116 111) und 21 Prozent bei den Eltern (Tel.: 0800 1110550). Offenbar ist der Bedarf an Beratung groß. Aber auch das Wissen darum, dass es Hilfe gibt, bildet sich in den Zahlen ab.
Adressen, an die sich wenden kann, wer zu Hause nicht mehr weiterweiß oder Gewalt erlebt, gibt es viele. In erster Linie sind auch jetzt die Jugendämter gefragt. Die Homepage www.bayern-gegen-gewalt.de versammelt Anlaufstellen und Infos.
Jugendamt: Hausbesuche nur bei akuten Notlagen
„Es gibt Angebote für Jugendliche, es gibt Angebote für Eltern. Durchs Raster fallen die kleinen Kinder“, warnt jedoch Alexandra Schreiner-Hirsch. Vieles, was wirklich in den Familien geschieht, bleibt in Zeiten der Isolation zwangsläufig unbemerkt. Denn bislang waren es vor allem Nachbarn oder Verwandte, die den Jugendämtern kritische Fälle mitteilten, sowie Lehrer, Erzieher, Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter. Die aber haben derzeit nur sehr eingeschränkt Gelegenheit, sich um ihre Schützlinge zu kümmern. So bleiben die Probleme der Kinder unsichtbar, und das auf unabsehbare Zeit.
Experten zeigen sich durchweg besorgt. „Wir gehen davon aus, dass die Fallzahlen von häuslicher Gewalt und Kindeswohlgefährdungen deutlich ansteigen werden, je länger die Ausgangsbeschränkungen bestehen bleiben“, so eine Sprecherin des Münchner Sozialreferats. Das Jugendamt bittet darum, dass Bürger im Verdachtsfall das zuständige Sozialbürgerhaus oder die Polizei informieren. Allerdings: Auch viele Jugendämter haben in der Krise ihre direkten Kontakte zurückgefahren. „Grundsätzlich finden Hausbesuche momentan ausschließlich bei akuten Notlagen, Gefährdungsmeldungen und existenzgefährdenden Krisen statt“, heißt es beim Münchner Jugendamt. Alexandra Schreiner-Hirsch vom Kinderschutzbund erzählt von Problemen bei der Inobhutnahme. Etwa, wenn ein Kinderheim darauf besteht, Neuankömmlinge unter Quarantäne zu stellen. Kindeswohlgefährdung hier, die Gefahr, durch einen einzigen übersehenen Corona-Fall ein ganzes Heim anzustecken, dort: ein Dilemma. Von der Politik wünscht sie sich kreative Lösungen. „Kinderbetreuung sollte jeder in Anspruch nehmen dürfen, der es dringend braucht“, so Schreiner-Hirsch. Und weil Bewegung nachweislich Stress abbaut, sollten auch Spiel- und Sportplätze geöffnet werden – unter Auflagen. Wenn sich Kontakte auf Abstand im Supermarkt organisieren lassen, so die Logik, müsste das auch auf Spielplätzen möglich sein.
Kinderschutzbund fordert: Spielplätze wieder öffnen
„Das Entscheidende ist derzeit, dass wir mit den Kindern und Familien in Beziehung bleiben“, sagt Schreiner-Hirsch. Dabei baut sie auf die pädagogischen Fachkräfte. Hier ist es häufig das besondere Engagement Einzelner, das hilft, Schlimmstes zu verhindern.
Eine hübsche Spielwiese für kreative Ideen eröffnet da die Digitalisierung. Besonders vorbildlich bemüht sich gerade ein Münchner Betriebskindergarten um seine Kleinen. Das Team versorgt die Kinder nicht nur mit Filmchen von der frisch gestrichenen Kita. Es hat auch Videos auf einer internen Plattform gesammelt, in denen die Kinder ihre Freunde grüßen und Selbstgebasteltes präsentieren können. „Den Kindern geht es gut und die Eltern machen das zu Hause ganz großartig“, erzählt Kitaleiterin Natalie Peischl.
Und es gibt auch Lehrkräfte wie Christine Hahn, Lehrerin einer vierten Klasse am Förderzentrum Grafing, die sehr engagiert sind. „Ein großer Teil meiner Arbeit ist Beziehungsarbeit“, sagt Hahn. An zwei Wochentagen telefoniert die Förderschullehrerin mit ihren zwölf Schülern. Zehn Minuten kann so ein Telefonat dauern. Oder auch mal eine Dreiviertelstunde. Zwar geht es vor allem um die Vermittlung von Lernstoff. Aber ganz nebenbei kriegt Christine Hahn beim Telefonieren auch mit, wie die Familien zurechtkommen. Wann ein Kind aufsteht, zum Beispiel. Oder ob es der Familie gelingt, eine feste Struktur aufrechtzuerhalten. Aus dem kurzen Vorgespräch mit den Eltern, die den Hörer abnehmen, erfährt sie auch, dass die Nerven gerade blank liegen und es am Vortag gekracht hat.
Manchmal hat sie darum die Schulsozialarbeiterin gebeten, noch mal nachzuhaken, einmal auch die Schulleitung eingeschaltet und dafür gesorgt, dass ein Kind in die Notfallbetreuung kam, „weil die Situation zu brenzlig war“.
Vergangenen Samstag verband Christine Hahn Pflicht und Kür zu einem kleinen Sportprogramm und radelte durch den Landkreis, bepackt mit Unterrichtsmaterial, um es ihren Schülerinnen und Schülern persönlich vorbeizubringen. „Dabei habe ich jedem mal in die Augen geschaut“, erzählt sie. Manche waren müde und lustlos. Andere munter. Spuren körperlicher Gewalt sah sie, zum Glück, keine. (Monika Goetsch)
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