Noch immer haben viele Deutsche Vorbehalte gegenüber Muslimen. Muslimische Angriffe auf jüdische Bürger haben diese Skepsis kürzlich noch verstärkt. Die Staatszeitung sprach mit Nurhan Soykan (47), Vizevorsitzende des Zentralrats der Muslime, darüber, wie ein friedliches Miteinander der Religionen in Deutschland gelingen kann.
BSZ: Frau Soykan, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung will besonders Muslime gewinnen für den Kampf gegen Judenhass. Fühlen Sie sich angesprochen?
Nurhan Soykan: Wir sehen in dem Antisemitismusbeauftragten auch einen Antirassismusbeauftragten. Antisemitismus ist ein Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Das gibt es bei Muslimen ebenso wie bei Angehörigen anderer Religionen. Ich kann nur sagen: Wir Muslime sind bemüht, dagegen anzukämpfen. Antisemitismus ist eine Sünde, Hass gegen Andersdenkende wird von unserem Glauben nicht gestattet. Der Islam sieht den jüdischen Glauben als Geschwisterreligion. Wir Muslime glauben an den Koran, an die Thora und an die Bibel. Es kommt alles vom gleichen Gott; wir akzeptieren alle Propheten.
BSZ: Nicht alle Muslime denken so.
Soykan: Angriffe gegen Andersgläubige, auch Angriffskriege, sind nicht gestattet. Das ist die Position des ZMD und der Mehrheit der Muslime.
BSZ: Wie gehen Sie mit Antisemitismus um, wenn Sie ihn wahrnehmen?
Soykan: Ich setze auf den Dialog und die Kraft der Argumente. Unser Verband hat sehr viele Projekte auf den Weg gebracht, wo wir mit Juden kooperieren. Zum Beispiel führen wir Jugendliche beider Glaubensrichtungen über das Projekt Juden und Muslime (JuMu) zusammen. Dabei machen wir immer wieder deutlich: Rassismus ist nicht statthaft. Dagegen ist Kritik an der israelischen Politik durchaus gestattet. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mitunter nicht differenziert wird zwischen Kritik an der Politik Israels und antisemitischen Äußerungen.
"Wir haben nicht verstanden, was Seehofer will"
BSZ: CSU-Chef Horst Seehofer hat angekündigt, die Islamkonferenz stärker auszurichten auf die Entwicklung eines „deutschen Islam“. Eine vernünftige Idee?
Soykan: Wir haben nicht verstanden, was er genau will. Er hat ja auch Workshops zur Integrationsfähigkeit angekündigt. Das kommt mir alles etwas konfus vor. Einen deutschen Islam gibt es ja schon. Genauso wie einen türkischen oder einen saudischen Islam. Die Unterschiede sind kulturell oder geografisch bedingt. Die Lehre ist dieselbe. Seehofer könnte wohl eher einen Islam meinen, der seinen Vorstellungen entspricht. Und das finde ich gefährlich, weil Staat und Religion getrennt sein sollten. Wenn der Staat in den Bereich der Religion hineinregieren will, widerspricht das unserem Grundgesetz. Wenn die Leitkultur im Grunde nichts anderes besagt, als dass muslimische Religionsgemeinschaften auf dem Boden des Grundgesetzes stehen sollen, frage ich mich, welche Ansatzpunkte Seehofer dafür hat, dass sie das nicht tun.
BSZ: Seehofer hat vor Kurzem auch den Satz hervorgekramt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Was der Vorsitzende Ihres Verbandes genervt damit kommentierte, es gebe wichtigere Fragen.
Soykan: Wir müssen uns auf gesamtgesellschaftliche Probleme konzentrieren, diese Debatte führt uns nicht weiter. Sie grenzt aus und spaltet. Man kann einen Muslim nicht akzeptieren und seine Religion ablehnen. Das ist unlogisch. Vielmehr sollte man Mut zur Vielfalt haben.
BSZ: Aber es ist ja nicht so, dass nur einzelne Politiker so denken. In einer Umfrage haben 70 Prozent der Deutschen die Aussage gutgeheißen. Fast genauso viele meinen, der Einfluss des Islam werde in Deutschland zu groß.
Soykan: Das ist ein Teufelskreis: Je öfter Leute so etwas sagen, umso häufiger wird es diskutiert. Es ist falsch, solche Debatten überhaupt so groß werden zu lassen. Man sollte stattdessen dazu beitragen, die Vorbehalte der Deutschen gegenüber dem Islam zu zerstreuen. Indem man zum Beispiel den Informationshorizont der Menschen erweitert, sie darüber aufklärt, wie viel Geld tatsächlich in die Integrations- und Flüchtlingspolitik gesteckt wird, im Vergleich etwa zu den Mitteln, die nach der Finanzkrise in die Bankenrettung flossen – seit 2008 waren das 236 Milliarden Euro. Was auch hilft, sind persönliche Begegnungen. Das fördert den Abbau von Vorurteilen ungemein. Eine Möglichkeit hierfür ist unser Projekt „Wir sind Paten“. In dessen Rahmen übernehmen hier lebende Menschen die Patenschaft für einen Flüchtling, helfen ihm etwa bei Behördengängen, bei der Wohnungssuche oder laden ihn einfach mal zum Kaffee ein.
BSZ: Wo hakt es bei der Integration am meisten?
Soykan: Bei der Schulbildung, der Chancengleichheit am Arbeitsplatz und daran, dass wir uns sicher fühlen können in Deutschland. Kein Mensch darf wegen seines Glaubens diskriminiert werden und muss ihn offen leben können. Das gilt auch für das elfjährige Mädchen in Osnabrück, dem auf offener Straße das Kopftuch heruntergerissen wurde. Ihr wurden dabei Haare ausgerissen, das ist leider kein Einzelfall. Die Angriffe auf Muslime und ihre Moscheen nehmen stark zu.
"Viele muslimische Kinder machen nicht die Bildungskarriere, die sie machen könnten"
BSZ: Was läuft schief bei der Schulpolitik?
Soykan: Sehr viele Kinder aus Migrantenfamilien haben Eltern, die keine Akademiker sind. Das war so, als ich in den 1970er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, und das ist noch immer so. Dabei könnten viel mehr Migranten Abitur machen. Wenn die Eltern nicht dahinter her sind, muss sich die Schule darum kümmern, dass begabten Kindern dieser Weg geebnet wird. Das könnte man zum Beispiel fördern, indem Lehrer mit Migrationshintergrund, die die Sprache der Eltern sprechen, mit diesen über die Begabungen und Chancen ihrer Kinder reden. Es wäre schön, wenn diese Lehrkräfte dafür als Vertrauenslehrer ein paar Stunden vom Unterricht freigestellt würden.
BSZ: Bleiben wir bei der Schule: Bayern will den Modellversuch „Islam-unterricht an Schulen“ beenden und prüfen, ob ein verstärkter Ethikunterricht das Gleiche leisten kann. Was sagen Sie dazu?
Soykan: Unser Grundgesetz verlangt, dass bekenntnisgebundener Unterricht mit Beteiligung der Religionsgemeinschaften zu erteilen ist. Sonst ist es kein konfessioneller Religionsunterricht, wie ihn Christen, Katholiken, Evangelen, orthodoxe, Aleviten, etcetera schon haben. Es ist eine Ungerechtigkeit gegenüber muslimischen Kindern. Muslimischen Schülern steht ebenso ein eigener Religionsunterricht zu.
BSZ: Gibt es Dinge, die Sie kritisch sehen am Islam?
Soykan: Nicht am Glauben selbst, aber an der Umsetzung. Leider gibt es in einigen Familien oft patriarchalische Strukturen, die Rechte von Frauen und Mädchen kommen zu kurz. Das gab es zu Zeiten des Propheten nicht. Da gab es sehr viele starke, mutige und auch engagierte Frauen. Ich wünsche mir, dass diese Frauen wieder Vorbilder werden.
"Unterdrückung ist das Kopftuch nur dann , wenn die Frau es nicht freiwillig trägt"
BSZ: Wie lässt sich das bewerkstelligen?
Soykan: Indem man zum Beispiel Kopftuchverbote aufhebt. Dann könnte man viel mehr muslimische Frauen und Mädchen, die jetzt zu Hause sitzen, ins Arbeitsleben integrieren.
BSZ: Es gibt auch muslimische Frauen, für die das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung ist.
Soykan: Unterdrückung ist es nur dann, wenn man gezwungen wird, es zu tragen. Ich bin für die Selbstbestimmung der Frau, sie allein entscheidet, ob sie es trägt oder nicht.
BSZ: Aber viele muslimische Männer überlassen ihren Frauen eben nicht die Entscheidung.
Soykan: Wenn sie das tun, hat das nichts mehr mit freiwilliger Glaubensausübung zu tun. Wir stehen Mädchen und Frauen, die in einer solchen Situation sind, selbstverständlich mit Rat und Tat bei.
BSZ: Sie tragen selbst ein Kopftuch. Warum?
Soykan: Ich habe mich mit 26 Jahren dafür entschieden, weil ich mich während meines Studiums nicht getraut hatte. Ich habe zuerst mein Staatsexamen als Juristin abgelegt. Ich habe damals einen Widerspruch empfunden zwischen meiner äußeren Erscheinung und meiner religiösen Pflicht. Der Islam schreibt vor, dass Frauen alles außer Händen, Füßen und Gesicht bedecken müssen. Und ich habe das Kopftuch auch als eine Art der Emanzipation empfunden, mich der weiblichen Sexualisierung zu entziehen; ich muss mich nicht jedem zeigen. Meine Tochter trägt kein Kopftuch, es ist eine individuelle und freiwillige Entscheidung. Manche tragen es früher, manche später, manche auch gar nicht. Das darf auch niemand bewerten.
BSZ: Wie beurteilen Sie Markus Söders Kreuzpflicht für Behörden?
Soykan: Ich habe persönlich kein Problem mit Kreuzen. Auch nicht mit dem Christentum. Ich wurde von Nonnen unterrichtet, meine Kinder hatten katholischen Religionsunterricht. So groß sind die Unterschiede zwischen Islam und Christentum auch nicht. Es geht um dieselben Werte: Toleranz, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft. Was nicht geht, ist, dass Söder das Kreuz als Machtdemonstration instrumentalisiert. Das führt zur Spaltung in der Gesellschaft.
(Interview: Waltraud Taschner)
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