Ältere werden sich noch erinnern: Vor Einführung der Krankenversichertenkarte mit Chip im Jahr 1995 mussten gesetzlich Krankenversicherte dem Hausarzt jedes Quartal den sogenannten Krankenschein vorlegen. Wenn ein Facharztbesuch notwendig war, stellte der Hausarzt eine Überweisung aus. Die Hausarztpraxis war der Mittelpunkt der ambulanten Behandlung. So soll es nach dem Willen der neuen Bundesregierung künftig wieder sein.
Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag die Einführung der verpflichtenden primärärztlichen Versorgung vereinbart. Die Patientinnen und Patienten wählen einen Haus- beziehungsweise Kinderarzt, an den sie sich bei allen medizinischen Anliegen zuerst wenden. Das direkte Ansteuern einer Facharztpraxis ist also nicht mehr erlaubt. Nur die Augenarzt-, die Zahnarzt- und die gynäkologische Praxis soll man weiterhin ohne Umweg aufsuchen dürfen. Bei chronisch Kranken kann die jeweils für sie zuständige Facharztpraxis die Betreuung übernehmen.
Die Koalition verspricht sich von der Abkehr von der komplett freien Arztwahl deutlich mehr Effizienz im System. Die Patientenversorgung soll so besser gesteuert werden können – mit dem positiven Effekt von früheren Terminen in Facharztpraxen, weil diese durch das neue Konzept entlastet werden sollen. Zudem rechnet die Koalition mit Kosteneinsparungen in Milliardenhöhe. In vielen anderen europäischen Ländern ist die Primärarztversorgung Standard, etwa in den Niederlanden, Dänemark oder Großbritannien.
Wie das deutsche System konkret aussehen soll, steht noch nicht fest. Wolfgang Ritter, Landeschef des Bayerischen Hausärzteverbands, lobte das Konzept aber schon einmal als „mutigen und richtigen Schritt der Koalitionäre“. Kein Wunder – schließlich erinnert es an ein bereits bestehendes System: die sogenannte hausarztzentrierte Versorgung. Bundesweit nehmen aktuell zehn Millionen gesetzlich Krankenversicherte freiwillig an dem Hausarztprogramm teil, bei dem die Allgemeinarztpraxis die Koordination übernimmt.
Assistenzkräfte sollen Diagnosen erstellen
In Bayern sind es rund 1,2 Millionen. Krankenkassen und Praxen werben dafür mit Bonusprogrammen. Es gibt auch private Krankenversicherungen, die solche Programme anbieten.
Beim Hausärzteverband hofft man, dass sich die Bundesregierung bei ihrer Reform – allein schon damit die Einführung schnell über die Bühne geht – am bestehenden Modell orientiert. Im Vorfeld des Bayerischen Hausärztetags an diesem Wochenende mahnte Ritter die baldige Umsetzung an.
Die Grünen im Bundestag unterstützen die Pläne von Schwarz-Rot, auch die Linke hat keine grundsätzlichen Bedenken. Nur die AfD lehnt die Einführung eines Primärarztsystems als „Schikane“ der Patientinnen und Patienten ab. Skepsis herrscht auch beim Bayerischen Facharztverband, freilich auch wegen befürchteter Einbußen seiner Mitglieder. Der Verband verweist auf eine Studie, wonach zwei Drittel der Deutschen Zweifel am tatsächlichen Nutzen des neuen Systems hätten. Die Kluft zu Privatversicherten, die nach wie vor freie Wahl haben, wächst so weiter an. Zu befürchten ist auch, dass die Möglichkeit, sich eine zweite ärztliche Meinung einzuholen, eingeschränkt wird. Die Pläne der Bundesregierung seien ein „gesundheitspolitisches Roulette-Spiel“, findet der Facharztverband. Gerade auf dem Land drohe eine schlechtere Versorgung, die Kosten würden sogar steigen. Die Hausärzte seien dem zu erwartenden deutlich höheren Patientenaufkommen nicht gewachsen.
Thomas Zöller (Freie Wähler), Patienten- und Pflegebeauftragter der bayerischen Staatsregierung, beruft sich auf andere Studien. Die Versorgungsqualität sei bei allen, die am freiwilligen Hausarztprogramm teilnahmen, hoch. Schließlich behält der Hausarzt zumindest im Idealfall den Überblick über alle Behandlungsfortschritte der Patienten. Und die Gesundheitsausgaben könnten den Studien zufolge auch gesenkt werden. Zöller ist daher für die verpflichtende Einführung. Hausärztinnen und Hausärzte sollten seiner Meinung nach nicht nur Lotsen im Gesundheitssystem sein, „sondern auch regelrechte Gatekeeper, also Torhüter“, erklärt er.
Dafür wollen sich die Hausärzte auch noch breiter aufstellen. Auf Bundesebene hat der Hausärzteverband zusammen mit der Universität Heidelberg das sogenannte Häppi-Konzept entwickelt. Dabei sollen Hausarztpraxen zu regelrechten hausärztlichen Versorgungszentren werden. Der Hausarzt an der Spitze delegiert mehr Aufgaben als bisher an sein Team, zu dem unterschiedliche medizinische und nichtmedizinische Fachkräfte gehören sollen.
Ein Physician Assistent, ein Beruf, für den man ein Bachelorstudium absolvieren muss, darf beispielsweise selbst Patienten untersuchen und einfache Diagnosen erstellen. Eine Betriebswirtschaftliche Assistenz in der Hausarztpraxis, ein Fortbildungsberuf für Medizinische Fachangestellte, kann etwa Abrechnungen erstellen. Vorgesehen ist auch eine weitreichende Digitalisierung der Arbeitsabläufe. Ziel bei allem: Der Hausarzt soll mehr Zeit für die Behandlungen haben, die wirklich einen ausgebildeten Arzt erfordern. Auch das Zusammenspiel mit den Facharztpraxen, an die weiterhin überwiesen werden soll, soll intensiviert werden.
In Baden-Württemberg wird das Konzept seit vergangenem Jahr erprobt, in Bayern soll es laut Bayerischem Hausärzteverband zum 1. Juli starten. In jedem der sieben Regierungsbezirke ist eine Praxis vorgesehen. Welche, das steht noch nicht fest. „Aktuell warten wir noch auf den Förderbescheid der bayerischen Staatsregierung, sobald dieser eingegangen ist, geht es an die Konkretisierung der Testpraxen“, teilt eine Sprecherin mit. Der Testbetrieb soll bis 31. Dezember laufen. (Thorsten Stark)
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