Politik

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht stärkt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (Foto: Uli Deck/dpa)

26.02.2020

Karlsruhe stößt Liberalisierung der Sterbehilfe an

Das Karlsruher Urteil zum Suizidhilfe-Verbot ist von enormer gesellschaftlicher Tragweite. Die Richter stellen klar: Jeder hat das Recht, selbstbestimmt zu sterben - auch mit der Hilfe von Dritten. Das gilt ausdrücklich für alle, nicht nur für unheilbar Kranke

Das Bundesverfassungsgericht stößt die Tür für eine Liberalisierung der Sterbehilfe weit auf. Das Verbot organisierter Angebote verletze den Einzelnen in seinem Recht auf selbstbestimmtes Sterben, urteilten die Karlsruher Richter am Mittwoch nach Klagen von schwerkranken Menschen, Sterbehelfern und Ärzten. Dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Das gilt ausdrücklich für jeden, nicht nur für unheilbar Kranke. (Az. 2 BvR 2347/15 u.a.)

Die Richter erklärten den Strafrechtsparagrafen 217, der seit Dezember 2015 geschäftsmäßige Sterbehilfe verbietet, für nichtig - weil er "die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleert". Eine Regulierung soll aber möglich sein.

"Geschäftsmäßig" hat nichts mit Geld zu tun, sondern bedeutet "auf Wiederholung angelegt". Aktive Sterbehilfe - also die Tötung auf Verlangen, zum Beispiel durch eine Spritze - ist und bleibt verboten. Bei der assistierten Sterbehilfe wird das tödliche Medikament nur zur Verfügung gestellt, der Patient nimmt es selbst ein.

Ohne Dritte kann der Einzelne seine Entscheidung zur Selbsttötung nicht umsetzen

Bisher bieten vor allem die umstrittenen Sterbehilfe-Vereine zahlenden Mitgliedern diesen Dienst an. Sie hatten ihre Aktivitäten in Deutschland 2015 weitgehend eingestellt. Ärzte sind nach dem Eindruck der Verfassungsrichter nur selten dazu bereit. Das Urteil verpflichtet auch keinen Mediziner, gegen seine Überzeugung Sterbehilfe zu leisten. Einen Anspruch auf Hilfe gebe es nicht.

Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle sagte, auch das Handeln von Suizidassistenten genieße einen weitreichenden grundrechtlichen Schutz. Ohne Dritte könne der Einzelne seine Entscheidung zur Selbsttötung nicht umsetzen. Dies müsse rechtlich auch möglich sein.

Nach Voßkuhles Worten hat der Gesetzgeber aber "ein breites Spektrum an Möglichkeiten", die Suizidhilfe zu regulieren. Das Urteil nennt beispielhaft prozedurale Sicherungsmechanismen wie gesetzlich festgeschriebene Aufklärungs- und Wartepflichten. Die Zuverlässigkeit von Anbietern könne über Erlaubnisvorbehalte gesichert werden. Besonders gefahrträchtige Formen könnten auch verboten werden.

Die Hilfe darf laut Urteil aber keinesfalls davon abhängig gemacht werden, ob zum Beispiel eine unheilbare Krankheit vorliegt. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bestehe in jeder Lebensphase eines Menschen, sagte Voßkuhle. "Wir mögen seinen Entschluss bedauern, wir dürfen alles versuchen, ihn umzustimmen, wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren." Es dürften aber "unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens" gestellt werden.

Die Umsetzung erfordere möglicherweise Anpassungen des Betäubungsmittelrechts, hieß es. Auch das Berufsrecht der Ärzte und Apotheker müsse entsprechend ausgestaltet werden.

Die großen Kirchen reagierten besorgt

Paragraf 217 im Strafgesetzbuch sanktionierte seit gut vier Jahren die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" mit bis zu drei Jahren Haft. Nur Angehörige und "Nahestehende" blieben straffrei. Die Politik wollte verhindern, dass Vereine wie Sterbehilfe Deutschland oder Dignitas aus der Schweiz gesellschaftsfähig werden. Niemand sollte sich unter Druck gesetzt fühlen, Suizid zu begehen.

Das 115-seitige Urteil nennt das auch ein legitimes Anliegen. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass die bisherige Sterbehilfe-Praxis die Willens- und Selbstbestimmungsfreiheit nicht in jedem Fall gewahrt habe, sei vertretbar. Das vollständige Verbot sei aber nicht angemessen. Der Gesetzgeber könne selbstverständlich Suizidprävention betreiben und palliativmedizinische Angebote ausbauen. Es sei aber niemand verpflichtet, solche Angebote in Anspruch zu nehmen.

Die großen Kirchen reagierten besorgt. "Das Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar", teilten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, in einer gemeinsamen Erklärung mit.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie warnte vor einer Dynamik mit nicht abschätzbaren Folgen. "Beihilfe zum Suizid darf keine Alternative zu einer aufwendigen Sterbebegleitung sein", erklärte er. In einer immer älter werdenden Gesellschaft steige der finanzielle Druck auf den Gesundheitssektor und der soziale Druck auf die kranken Menschen.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte, mit dem Urteil werde die Selbsttötung zur selbstverständlichen Therapieoption. Der Gesetzgeber habe kein Instrument, dem jetzt noch einen Riegel vorzuschieben, erklärte Vorstand Eugen Brysch.

Die SPD im Bundestag verlangte Bewegung vom CDU-Gesundheitsminister. "Jens Spahn muss jetzt seinen Widerstand gegen die Abgabe der dazu notwendigen Medikamente aufgeben", sagte SPD-Fraktionsvize Bärbel Bas der Deutschen Presse-Agentur. Bisher verhindert Spahn, dass das zuständige Bundesinstitut unheilbar Kranken auf Antrag Zugang zu einem Betäubungsmittel in tödlicher Dosis ermöglicht. Dazu verpflichtet ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2017.
(dpa)

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