Wirtschaft

Über 900.000 Unternehmer*innen fordern, dass Klimaschutz und Versorgungssicherheit nicht entkoppelt voneinander betrachtet werden dürfen. (Foto: dpa/Christophe Gateau)

04.02.2022

"Die größte Belastung sind die steigenden Produktionskosten"

Achim von Michel, Landesbeauftragter Politik der Landesgeschäftsstelle Bayern des Bundesverband mittelständische Wirtschaft, über Corona und die Folgen für den Mittelstand

Der Mittelstand kämpft nicht nur mit den Belastungen durch die Corona-Pandemie. Energiewende, steigende Produktionskosten, gestörte Lieferketten, hohe Inflation und Klimaschutzvorgaben machen den Unternehmen zu schaffen.

BSZ: Herr von Michel, das Jahr 2021 war das zweite Pandemiejahr. Wie gestaltet sich die aktuelle Geschäftslage in der mittelständischen Wirtschaft?
Achim von Michel: Die aktuelle Geschäftslage gestaltet sich je nach Branche vom Nach-Corona-Boom bis hin zur akuten Existenzkrise. Besonders gefährdet sind Branchen, die noch immer stark durch die Corona-Maßnahmen eingeschränkt sind – allen voran Reiseveranstalter, die Veranstaltungswirtschaft, Beherbergungsbetriebe und das Gastgewerbe. Für diese Branchen ist eine Verlängerung der staatlichen Hilfen derzeit unerlässlich.

BSZ: Das heißt konkret?
Von Michel: Aktuell bedroht Corona jedes siebte deutsche Unternehmen in seiner Existenz. Dank der staatlichen Hilfen ist die befürchtete Pleitewelle zwar bisher ausgeblieben. Allerdings wurden dadurch auch viele Unternehmen künstlich am Leben gehalten. Diese sogenannten „Zombie-Unternehmen“ werden bei einer Einstellung der staatlichen Unterstützung insolvent gehen.

BSZ: Wagen wir einen Ausblick auf 2022. Wie wird 2022 für den Mittelstand?
Von Michel: Die Jahresumfrage unseres Bundesverbands mittelständische Wirtschaft hat gezeigt, dass der Mittelstand deutlich skeptischer auf 2022 blickt als die Wirtschaftsforschung. Entgegen den Prognosen befürchten viele Unternehmer eine Rezession. Zwar wird 2022 wohl für die meisten mittelständischen Unternehmen ein Schritt in die richtige Richtung. Angesichts der vielen aktuellen Herausforderungen ist das Niveau von vor der Pandemie aber noch in weiter Ferne.

BSZ: Sie haben die Herausforderungen für den Mittelstand angesprochen. Welche sind das?
Von Michel: Die größte Belastung für mittelständische Unternehmen sind die steigenden Produktionskosten im Zuge der explodierenden Energiepreise auf dem Weltmarkt. Hier fordern wir als BVMW eine Entlastungsoffensive der Politik. Die EEG-Umlage muss abgeschafft und die Stromsteuer auf das europäische Mindestniveau gesenkt werden. Außerdem sollten Investitionen in Energieeffizienz und Stromproduktion steuerlich absetzbar gemacht werden. Andernfalls haben deutsche Mittelständler auf dem Weltmarkt einen erheblichen Wettbewerbsnachteil.

BSZ: Und die Inflation?
Von Michel: Auch die hohe Inflation macht uns zunehmend Sorgen. So könnte es zu einer Lohn-Preis-Spirale kommen, bei der die Unternehmen am Ende auf den höheren Kosten sitzenbleiben. Unsere Hoffnungen ruhen hier auf der EZB, die die schrittweise Zinswende – ähnlich wie die US-Notenbank Fed – früher als erwartet einleiten sollte. Zudem gibt es mit dem Fachkräftemangel, der Materialknappheit und den gestörten Lieferketten weitere Probleme, denen sich die neue Bundesregierung dringend widmen muss.

BSZ: Wie ließen sich diese Probleme aus Ihrer Sicht lösen?
Von Michel: 2021 hat gezeigt, dass Deutschland und Europa wieder autarker werden müssen. Es darf künftig nicht mehr sein, dass ein Viertel aller Unternehmen des deutschen Mittelstandverbands wegen gestörten Lieferketten und Materialengpässen Aufträge ablehnen muss. Daher müssen kritische Produktionen wieder nach Europa verlegt werden. Dies gilt nicht nur für die Hightech-Industrien, sondern auch für medizinisches Equipment und Pharmaprodukte. Der deutsche Halbleiterhersteller Infineon beispielsweise beweist schon jetzt, dass auch Europa ein bedeutender Standort in der Produktion von Spitzentechnologie sein kann. Um aber gegenüber Asien und den USA nicht noch weiter ins Hintertreffen zu geraten, erfordert es mehr Tempo und einer gezielteren Förderung durch die EU. Entsprechende Impulse dafür sollte die neue Bundesregierung in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern geben.

BSZ: Gibt es dafür auch genügend Arbeitskräfte?
Von Michel: Auch beim Fachkräftemangel bedarf es neuer politischer Impulse. Über 90 Prozent der von uns befragten Unternehmen sehen durch das im März 2021 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz keine Verbesserung des Fachkräftemangels. Deshalb müssen zum einen die klassischen Ausbildungsberufe, beispielsweise im Handwerk oder in der Pflege, attraktiver werden. Zum anderen muss die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland vereinfacht werden. Nach Schätzungen der Wirtschaftsweisen Professor Monika Schnitzer benötigt Deutschland eine Netto-Zuwanderung von 400.000 Menschen im Jahr. Um diese zu erreichen, müssen pro Jahr etwa 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern. Dementsprechend müssen wir es den Menschen so einfach wie möglich machen, nach Deutschland zu kommen und sich in Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu integrieren. Hier ist zum Beispiel die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen ein Ansatzpunkt, an dem dringend gearbeitet werden muss.

BSZ: Eines der meistdiskutierten Themen im vergangenen Jahr war der Klimaschutz. Wie ist der Stand der Dinge beim Klimaschutz?
Von Michel: Der Mittelstand nimmt den Klimaschutz zunehmend als bedeutenden Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit wahr. Bereits jetzt haben mittelständische Unternehmen etwa 22 Milliarden Euro in mehr Nachhaltigkeit investiert. Klimaschutz ist immer häufiger ein Kriterium bei der Vergabe von Aufträgen, Fördermitteln und Krediten. Daher sehen fast zwei Drittel der Unternehmen Klimaneutralität auch als langfristige Chance. Gleichzeitig können viele Unternehmen Klimaneutralität nicht ohne externe Hilfe erreichen. Neben dem Know-how fehlt es oftmals an Zeit und Personal. Auch die hohen Kosten für Investitionen und Informationsbeschaffung stellen ein Hemmnis auf dem Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft dar.

BSZ: Und wie sieht es mit der Volatilität bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien aus?
Von Michel: Viele Unternehmer sorgen sich um die Versorgungssicherheit ihrer Betriebe. Noch immer liegen keine schlüssigen Konzepte vor, wie die Wirtschaft im Falle eines vorgezogenen Kohleausstiegs mit ausreichend Strom versorgt werden soll. Durch den nahezu gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle- und Kernkraft drohen deutschen Unternehmen hier Nachteile gegenüber internationalen Wettbewerbern. Dies trübt die Stimmung im Mittelstand erheblich. Neben dem massiven Ausbau von erneuerbaren Energien – für den der BVMW zahlreiche Vorschläge gemacht hat – wünschen wir uns von der Bundesregierung mehr Pragmatismus und eine technologieoffene Herangehensweise. Wichtig ist uns als Vertreter von über 900.000 Unternehmerstimmen dabei: Klimaschutz und Versorgungssicherheit dürfen nicht entkoppelt voneinander betrachtet werden!
(Interview: Ralph Schweinfurth)

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