Eigentlich sollte jeder Dozent und jede Dozentin den Studierenden beizeiten beibringen, dass Wissenschaft von der Kontroverse lebt, sagt Harald Wehnes, der als Informatikprofessor in München und Würzburg lehrt. „Wissenschaft kann sich nur so weiterentwickeln“, betont er. Auch in seinen Seminaren ging es in letzter Zeit hoch her. Seine Studentinnen und Studenten regten sich auf über das Agieren des Freistaats.
Von außen scheint das weite Feld der Informatik gegenüber Fächern wie Soziologie oder Kulturwissenschaft politisch eher wenig bewegt zu sein. Doch das täuscht. Studierende, die sich in Informatik-Fachschaften engagieren, sind im Gegenteil gerade ziemlich in Aufruhr. Konkret nervt die jungen Leute, dass der Freistaat ohne Ausschreibung einen Milliardenauftrag an Microsoft plant und gleichzeitig das Kinderstartgeld streicht.
Warum ist das ein Ärgernis? „Auf der einen Seite begründet der Finanzminister den Wegfall von Sozialleistungen mit knappen Kassen, auf der anderen Seite verhandelt er einen Milliardenvertrag mit einem Monopolisten“, erklärt Wehnes den Unmut. In seinen Seminaren wird also darüber diskutiert, inwieweit der Deal des Freistaats in die „digitale Abhängigkeit“ und sogar in eine „Schuldenorgie“ führen könnte. Schließlich gibt Microsoft Preise und Konditionen vor, einseitige Änderungen seien nicht ungewöhnlich.
Die Ausladung von Wissenschaftlern, die nicht bedingungslos unterschreiben, was an einer Hochschule en vogue ist, oder die eine völlig andere Auffassung als Professorinnen oder Studenten haben, lehnt Wehnes ab. Er selbst, sagt er, hat noch nie jemanden ausgeladen.
Meinungsfreiheit ist in Deutschland ein hohes Gut. Und im Grundgesetz festgeschrieben. Was die Frage aufwirft, wie es sein kann, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gecancelt werden. Das kommt nämlich immer häufiger vor. Die Münchner Jesuitenhochschule lud just den Philosophen Sebastian Ostritsch wegen dessen konservativer Haltung aus.
Ein Wissenschaftler wird ausgeladen, weil er an zwei Geschlechter glaubt
Studenten hatten im Vorfeld in sozialen Medien erklärt, Ostritsch verfolge eine „gefährliche politische Agenda“. Ostritsch selbst betont, er glaube, dass es nur zwei Geschlechter gebe, außerdem sei er gegen Abtreibung. Gecancelt wurde die Veranstaltung mit ihm dann aufgrund von Sicherheitsbedenken.
An der Uni Bielefeld wollte der Studentenausschuss am 11. Dezember, den dort lehrenden Juraprofessor Martin Schwab an einem Vortrag hindern. Vermummte Studierende blockierten den Zugang zum Hörsaal. Laut einer Unisprecherin konnte die geplante Veranstaltung jedoch trotz der Proteste in einem benachbarten Hörsaal durchgeführt werden.
Martin Schwab, der bei öffentlichen Auftritten immer wieder auf die Gefahren für die Demokratie durch die Verstrickung von Macht und Geld hinweist, gilt als Querdenker-Professor, weil er es gewagt hatte, die Corona-Politik bis heute massiv zu kritisieren.
Der Psychologe Bertolt Meyer von der Technischen Universität Chemnitz, Autor des kürzlich erschienenen Buches Anders, ist ob der Diskursverengung besorgt. In der Wissenschaft ist Streit seiner Ansicht nach nötig, weil objektiv erhobene Daten nur die halbe Miete sind. Kommen fünf Wissenschaftler zusammen, bringt jede und jeder eine andere subjektive Interpretation mit. Im Austausch der Argumente entsteht, was man Wissenschaft nennt. In seinem Buch wirft Meyer die Frage auf, was jeder tun kann, um sich aus dem Teufelskreis von manifestierten Meinungen zu befreien. „Es geht angesichts der Polarisierungen darum, die eigene Reaktion und die des Gegenübers zu verstehen“, erklärt er.
Hörsäle wurden besetzt
Die Aufregung um die aktuell teils heftigen Auseinandersetzungen im Hochschulraum hält er im Vergleich mit den wilden 1960er-Jahren für übertrieben. Auch während seiner eigenen Studentenzeit in den 1990er-Jahren in Hamburg sei es turbulent gewesen: „Hörsäle wurden besetzt, Vorlesungen bestreikt, so etwas gehört zur Hochschulkultur.“
Dass Wissenschaft Regeln hat, wie Musik oder Fußball und vieles mehr, darauf verweist auch Peter Hoeres, Geschichtsprofessor an der Uni Würzburg. Gegenseitig stellt man sich Thesen vor, kritisiert sie inhaltlich und methodisch, bestätigt sie, verbessert oder verwirft sie. In der Vergangenheit fand das auf Augenhöhe statt. Nun werde die sachliche Ebene immer häufiger verlassen. Themen würden moralisch aufgeladen: „Es kommt zu Attacken auf Personen, und zwar auf solche in einer vulnerablen Karrierephase, das geht mir gegen den Strich.“ Dass im Meinungsstreit zunehmend das Etikett „links“ oder „rechts“ vergeben wird, nennt Historiker Hoeres fatal. Hierzu veröffentlichte er Mitte Oktober das Buch Rechts und links: Zur Karriere einer folgenreichen Unterscheidung in Geschichte und Gegenwart.
Aus einer Mitteilung der Otto Brenner Stiftung, einer Institution der IG Metall, geht hervor, wie schnell Andersdenkende im Hochschulraum als „rechts“ ausgewiesen werden. „Extrem rechte Akteure“ reklamierten Wissenschaftlichkeit für diskriminierende Aussagen, erklärt in der Mitteilung Christoph Haker von der Europa-Universität Flensburg, der dazu eine Untersuchung durchgeführt hat. Sein eigenes Buch, meint Hoeres lakonisch, könne als Kommentar hierzu gelesen werden.
Weder Wehnes noch Meyer oder Hoeres benötigen Coaches, Obleute oder Trainer, um mit aufgebrachten Studenten umzugehen. Alle drei könnten auf das Marburger Projekt verzichten. Es geht dabei darum, Menschen beizubringen, über schwierige Themen wie den Nahostkonflikt oder den Ukraine-Krieg zu sprechen, ohne dass die Diskussion eskaliert oder Meinungsvielfalt unterdrückt wird. Was früher selbstverständlich war, muss heute offenbar extra geübt werden. (Pat Christ)
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