Politik

Nicht alle Kinder besuchen in Deutschland regelmäßig die Schule. (Symbolbild. Foto: dpa)

08.07.2022

Die vergessenen Kinder: Mehrere Tausend autistische Mädchen und Jungen können über Monate hinweg keine Schule besuchen

Das bayerische Schulsystem ist nicht für Autisten ausgelegt - viele Kinder werden deshalb um ihre Chance auf Bildung und Teilhabe gebracht. Die Eltern sind laut dem Autismusverband "am Limit"

Als Mira Müller* vor fast zwei Jahren begann, eine passende Schule für ihren autistischen Sohn Florian* zu suchen, wusste sie, dass es nicht leicht wird. „Doch dass bereits kleine Kinder mit Behinderung so krass ausgegrenzt werden – damit hatte ich nicht gerechnet“, so die 35-jährige kaufmännische Angestellte. Zwar erkundigten sich die Müllers von Beginn an auch nach anderen Schulen, doch zunächst wollte es die Familie bei der nächstgelegenen Grundschule in ihrem oberbayerischen Heimatort probieren. Denn die besuchen Florians Freunde.

Für Autist*innen sind große Veränderungen und weite Wege zudem oft eine große Belastung, weshalb ein Schulstart in einem anderen Ort eine krasse Herausforderung ist. Daher hofften die Müllers auf eine inklusionsoffene Grundschule vor Ort – und wurden bitter enttäuscht. Sie habe transparent gesagt, dass ihr damals sechsjähriger Sohn Asperger-Autist sei und mitunter noch in die Hose mache, so die Mutter. Obwohl Müller klargemacht habe, dass Florian einen Schulbegleiter bekommen soll, der sich ständig um ihn kümmert, also auch beim Toilettengang, habe die Schulleitung früh gesagt, dass der Bub nicht auf ihre Schule könne.

Rückzugsräume und Schulbegleiter können helfen

Viele autistische Kinder brauchen einen Schulbegleiter. Ein großer Teil von ihnen hat eine Filterschwäche, nicht wenige eine geringe Lärm- und Frustrationstoleranz. Wird es zu laut, gehen sie im Idealfall mit dem Helfer in einen sogenannten Rückzugsraum. In manchen Ländern sind solche Räume, von denen auch andere Kinder mit Förderbedarf profitieren, auch an Regelschulen längst Standard. In Florians Sprengelschule hieß es laut Müller, dass es keine Rückzugsräume gebe. „Dabei standen Zimmer frei.“ Auch andere Schulen wollten den Jungen nicht aufnehmen. Dabei ist er gut integrierbar – im Kindergarten lief es meist gut und der Bub kickt in einem normalen Sportverein. Dennoch sei ihr von einer Direktorin geraten worden, den Jungen auf eine Förderschule für Lernbehinderte zu schicken. Dabei hat Florian einen Intelligenzquotienten von 130 und ist damit hochbegabt.

Förderschulen sind für Asperger-Autisten mit in der Regel normaler oder großer Intelligenz nur sehr selten eine Alternative. Bundesweit beenden gut drei von vier Förderschülern diese Schulform ohne anerkannten Abschluss. Nur jeder dreihundertste schafft das Abitur oder Fachabitur. An Regelschulen war es bundesweit zuletzt jeder zweite.

Noch schwieriger verlief der Start in die Schule für Christian Altmann*. Seit sieben Jahren geht der heute 13-Jährige mittlerweile zur Schule – zumindest sollte er das. Denn laut seiner Mutter Monika wurde der Junge von den gut sieben Jahren, in denen er schulpflichtig war, fast fünf Jahre nicht beschult. Mal habe eine Schule den Jungen nicht aufnehmen wollen, mal sei er mit „fadenscheinigen Argumenten abgeschult“ worden. Eine Schule habe ihn „schlicht rausgemobbt“. Oft habe er auch keinen Schulbegleiter oder einen Ruheraum gehabt. Statt als Karrierefrau schuftete Betriebswirtin Altmann deshalb oft zu Hause als Ersatzlehrerin, damit Christian trotz Abwesenheit doch noch möglichst viel Lernstoff verinnerlicht. Aktuell ist der Junge an einer oberbayerischen Grundschule in der 4. Klasse eingeschrieben. Nächstes Jahr soll der normal intelligente, dann 14-jährige Junge die 5. Klasse einer Mittelschule besuchen.

Alarmierende Studie

Das Kultusministerium äußerte sich aus Datenschutzgründen nicht zu den Vorwürfen. Klar ist: Der Fall Altmann mag besonders verfahren sein. Dass autistische Kinder über viele Monate keine Schule besuchen können, ist jedoch keine Ausnahme. 2019 befragten Forscher der LMU in München und anderer Hochschulen fast 700 Autisten im Freistaat nach ihrer Lebenssituation – darunter viele Schulkinder beziehungsweise deren Eltern. Jeder fünfte Befragte war demnach bereits einmal von der Schule ausgeschlossen worden. Im Durchschnitt fehlten jene Schüler*innen zehn Monate lang. Und auch bei einer Umfrage von Autismus Deutschland unter Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrums-Störung hatte 2016 jeder fünfte angegeben, das eigene Kind sei schon einmal von der Schule ausgeschlossen worden – teils über Monate hinweg.

Dorothea Holler, Vorsitzende von Autismus Bayern, geht sogar von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Eine häufige Ursache für Schulausfälle sei das Fehlen eines Integrationshelfers. Es gibt schlicht viel zu wenige Begleiter. Und die, die es gibt, haben oft keine Qualifikation und Erfahrung im Umgang mit Autisten, beklagen Autismus- und Lehrerverbände unisono. Dem Kultusministerium liegen einem Sprecher zufolge „keine belastbaren Zahlen“ zu Fehlzeiten von Autisten vor.

"Eltern am Limit"

Im FW-geführten Haus geht man davon aus, dass geschätzt etwas mehr als 16 000 bayerische Schüler unter ASS leiden. Rechnet man die beiden Autismus-Umfragen hoch, dürften demnach bereits mehrere Tausend autistische Kinder und Jugendliche im Freistaat monatelang um ihr Recht auf einen Schulbesuch gebracht worden sein. „Dass so viele Kinder keine Schule besuchen dürfen, ist ein Skandal“, sagt Stefan Bauerfeind, stellvertretender Chef von Autismus Bayern. „Eltern, die zu Hause die Kinder per Homeschooling unterrichten müssen, sind am Limit“, so Holler.

Kerstin Celina, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, sieht ein „systematisches Organisationsversagen“. Sie fordert ebenso wie der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband mehr Sonderpädagogen an Regelschulen zu schicken sowie den Einsatz von Schulbegleiter-Pools an den Schulen. Das Kultusministerium verweist auf den MSD-Autismus. Doch dieser hat Experten zufolge viel zu wenig Personal und ist nicht an den Regelschulen vor Ort. Autismus Bayern fordert mehr Rückzugsräume. Auch sollten Lehrkräfte Sonderpädagogik-Seminare während des Studiums besuchen.

Besser als im Freistaat läuft es laut Autismus Deutschland etwa in Schleswig-Holstein. Dort gibt es deutlich mehr Sonderpädagogen an Regelschulen, und ein neues Landesförderzentrum hilft allen Schulen, dass autistische Kinder erfolgreich eine Schule besuchen zu können. Ein Happy End gab es im Fall von Florian Müller. Eine kleine Privatschule hat den Jungen aufgenommen. Doch nicht jeder hat so viel Glück. (Tobias Lill)

*Name geändert

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