Die Schulkarriere von Christian Altmann (Name geändert) gleicht einer Odyssee. Seit beinahe zehn Jahren geht der heute 16-Jährige mittlerweile zur Schule – zumindest sollte er das. Denn laut seiner Mutter Monika wurde der Bub in dieser Zeit rund sechseinhalb Jahre nicht beschult. Mal habe eine Schule den Jungen nicht aufnehmen wollen, mal sei versucht worden, ihn mit „fadenscheinigen Argumenten abzuschulen“. Ein entscheidendes Problem: Häufig hatte er keinen Schulbegleiter. Statt als Betriebswirtin schuftete die Mama deshalb oft zu Hause als Ersatzlehrerin.
Immerhin: Mittlerweile läuft es. Aktuell besucht der überdurchschnittlich intelligente Junge aus Oberbayern eine Regelschule – er hat seit einigen Monaten einen Schulbegleiter und geht normal in den Unterricht, hat gute Noten. Doch für die Familie war die lange Zeit des Homeschoolings eine immense Herausforderung. Das Kultusministerium äußerte sich aus Datenschutzgründen nicht zu dem Fall.
Viele Autisten betroffen
Zwar ist der Umgang mit Altmann ein Extremfall. Doch dass autistische Kinder über viele Monate keine Schule besuchen können, ist keine Ausnahme. 2019 befragten Forscher mehrerer Hochschulen fast 700 Autisten im Freistaat nach ihrer Lebenssituation – darunter viele Schulkinder beziehungsweise deren Eltern. Jeder fünfte Befragte war demnach bereits einmal von der Schule ausgeschlossen worden. Im Durchschnitt fehlten jene Schülerinnen und Schüler zehn Monate lang. Eine Umfrage von Autismus Deutschland unter Eltern von autistischen Kindern kam 2016 zu einem ähnlichen Ergebnis. Stefan Bauerfeind, Vorsitzender von Autismus Bayern, sagt: „Oftmals intelligente Kinder müssen zu Hause bleiben, weil sie den Präsenz-unterricht nicht besuchen dürfen oder können.“ Die Eltern müssten dann Ersatzlehrkraft spielen oder ein begabtes Kind müsse auf eine Förderschule – Letztere verlassen im Schnitt mehr als zwei Drittel der Absolventen ohne anerkannten Abschluss.
Eine häufige Ursache für lange Abstinenz vom Unterricht sei das Fehlen eines kompetenten Schulbegleiters. Bauerfeind fordert vom Staat bessere Rahmenbedingungen in Form von qualifiziertem Personal wie Sonderpädagogen sowie ausreichend Schulbegleiter.
Wohlfahrtsverbände warnen
Schulbegleiter helfen auch Kindern mit anderen Beeinträchtigungen – etwa beim Schreiben oder dem Schieben des Rollstuhls. Die Integrationshelfer minimieren Konflikte und geben Medikamente.
Eltern geistig oder körperlich Beeinträchtigter berichten ebenfalls, wie schwierig es ist, einen Begleiter zu finden. Für Patricia Koller vom Behindertenverband Bayern ist klar: „Das sind keine Einzelfälle.“ Es könne nicht sein, dass beeinträchtigte Kinder um ihr Recht auf Bildung gebracht werden.
Wie groß die Misere ist, zeigen auch BSZ-Anfragen bei Vereinen und Wohlfahrtsverbänden, die im Auftrag von Jugendämtern und Bezirken Schulbegleiter stellen – etwa beim Caritasverband der Erzdiözese München und Freising. „Wir haben insgesamt fünf Schulbegleitdienste in unseren verschiedenen Regionen. In keinem der Dienste können alle Anfragen der Kinder mit einem passenden Begleiter besetzt werden“, sagt eine Sprecherin. Auch die Lebenshilfe München ist nach eigener Aussage nicht in der Lage, alle Anfragen zu bedienen. Bei den Johannitern gibt es ebenfalls Wartelisten für Kinder, die eine Schulbegleitung benötigen, weshalb der Dienst gerade eifrig Personal sucht. Im Regionalverband Mittelfranken sind bislang 30 Mädchen und Buben auf einer Warteliste, in Oberfranken 23. Im Raum Oberbayern sind es laut einer Sprecherin sogar „circa 130 Anfragen“.
Verzweifelte Eltern
Einzelne Dienste nahmen zuletzt gleich gar keine neuen Jungen und Mädchen auf ihre Warteliste. Nicht so bei den Johannitern. „Bei uns wird für jedes Kind ein passender Begleiter gesucht.“ Die Gründe für die Unterversorgung sind vielschichtig: Da ist zum einen die miese Bezahlung. Auch weil der Großteil der Kommunen bei der Bewilligung des Entgeltsatzes knausert, verdienen viele Integrationshelfer kaum mehr als den Mindestlohn. Fachkräfte sind den Begleitdiensten zufolge auf dem leergefegten Markt für Erzieher und Heilerziehungspfleger ohnehin schwer zu bekommen.
Ein weiteres Problem, das die Vermittlung von Begleitern erschwert: Wird der Schüler krank, bekommen die Dienste angesichts mieser Rahmenverträge mit Jugendämtern und Bezirken oft nur eine sehr geringe Zahl an Abwesenheitstagen bezahlt – teils gehen sie auch komplett leer aus. Dabei sind Kinder mit Beeinträchtigungen oft weit häufiger krank als ihre nicht behinderten Altersgenossen. „Bei hohen Krankheitszahlen und dadurch bedingten Fehlzeiten ist eine Einzelbegleitung immer defizitär“, sagt eine Caritas-Sprecherin. Bezirke und Jugendämter müssten dies ausgleichen. Ein Dienst sagt inoffiziell, Schulbegleitung sei immer öfter ein Zuschussbetrieb.
Zahlt ein Jugendhilfeträger zu schlecht, kommt es vor, dass ein Verband die Zusammenarbeit mit ihm beendet. So geschehen im Landkreis Dachau – wegen finanzieller Differenzen zwischen der Caritas und dem Landratsamt liefen in dem westlich von München gelegenen Landkreis Ende Juli 27 Schulbegleitungen aus. Dabei waren dort bereits zuvor längst nicht alle Schüler mit Integrationshelfern versorgt.
Kommunen sehen Freistaat in der Pflicht
Doch die Schuld liegt nicht bei den Kommunen – die müssen angesichts leerer Kassen überall sparen. Selbst Kommunalpolitiker der Regierungsparteien sehen deshalb den Freistaat in der Pflicht. Denn Bildung ist Ländersache. „Schulbegleitungen im Bereich der Jugendhilfe sind aus unserer Sicht eine staatliche Aufgabe“, sagt Kelheims Landrat Martin Neumeyer (CSU). Er sieht „dringenden Klärungsbedarf auf der ministeriellen Ebene hinsichtlich der Zuständigkeiten“. Es dürfe nicht sein, dass unzureichende Personalausstattung seitens des Staates mit kommunalen Mitteln ausgeglichen werde.
SPD-Inklusionsexpertin Simone Strohmayr sagt, sie erlebe „die Verzweiflung vieler Eltern regelmäßig in meinen Sprechstunden“. Ihre Landtagsfraktion fordert, „die Schulbegleitung zentral zu organisieren und direkt an den Schulen zu verankern“.
Ein Sprecher des FW-geführten Kultusministeriums verweist darauf, dass der Freistaat seit 2011 massiv Personal an Schulen eingestellt habe – 1450 Stellen allein im Bereich Inklusion. Ebenso wie die Grünen setzt das Ministerium auf das Pooling-Modell, bei dem sich Kinder einen Schulbegleiter teilen. Dies bringe „an geeigneten Standorten Vorteile für alle Beteiligten“, so der Sprecher.
Doch für Regelschulen ist dies laut Verbänden oft keine Option, da dort anders als an Förderschulen oft nur ein beeinträchtigtes Kind in der Klasse sitzt. Klar ist: Der Weg zur Inklusion ist in Bayern noch weit. (Tobias Lill)
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